Rainer Wilkens
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Der globale Raum

Essay zur Ästhetik der Globalisierung, erschienen im Katalog zum Milleniumsprojekt PEACE 1999 des Migros Museums für Gegenwartskunst in Zürich.

Rainer Wilkens
 
Durch den weltweiten Austausch von Gütern, Wissen, Kapital und Kultur entsteht ein Raum, der fern jeden wirklichen Ortes ist und der nur in unseren Köpfen existiert: der globale Raum.
 
Ob an Bord eines Transatlantikfluges oder auf virtuellen Reisen durch das Internet: die Imagination vom globalen Raum nährt sich seit jeher vom Menschheitstraum der Überwindung kontinentaler Grenzen und vom Ingenieur-Mythos der technischen Machbarkeit. Der Wunsch, Menschen und Güter zu jeder Zeit an jeden Ort dieser Erde verbringen zu können, läßt Logistiker an immer perfekter werdenden Plänen zur Gestaltung von Transport, Lagerung und Umschlag feilen und Nutzer der Telekommunikation fest an den neuen Mythos glauben, durch virtuelle Präsenz effizienter zu sein.
 
Ob live im Fernsehen, online im Internet oder im Transitbereich eines Flughafens: im globalen Raum existiert die Zeitordnung des "Jetzt". Der in Echtzeit gelebte Augenblick ist die Dimension, die die Ereigniszeit einer Metropole mit der Naturzeit eines Dorfes synchronisiert. So wie in einem Museum Objekte aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen zusammengestellt werden, um dem Besucher einen Gesamteindruck bieten zu können, simulieren wir über die Echtzeitordnung einen Raum, der uns zu Besuchern einer durchgehend geöffneten Weltausstellung werden läßt.
  

Wir sind dabei, Nationen zu einem Dorf zu vernetzen, aber die zeitliche Dimension zu vergessen, der unser Sein unterworfen ist. Wir verknüpfen unseren Glauben an die Geschwindigkeit mit der Hoffnung auf die Erlösung durch die Rhythmen der Echtzeitkultur des Internet. Je mehr die Technik den globalen Raum Wirklichkeit werden läßt, desto schneller wird der kulturelle Takt und desto deutlicher ein künstlicher Rhythmus, der weder Tag noch Nacht, weder Sommer noch Winter kennt und der im Begriff ist, sich sowohl vom Biorhythmus des an Ort und Zeitzone gebundenen Menschen als auch von den Zyklen der Natur zu entfernen.
 
Können wir Transiträume wie Flughäfen noch sinnlich wahrnehmen, was ihr künstliches Licht, ihre klimatechnische Isolation und schalltechnisch erzwungene Ruhe angeht, so bleibt für uns die Begegnung mit dem berechneten Raum eine abstrakte Erfahrung, weil man ihn zwar begreifen, nicht aber greifen kann. Konfrontiert mit der Herausforderung, der globalen Dimension Gestalt und Ausdruck zu verleihen, entwerfen Architekten Flughäfen, die zu künstlichen Städten mutieren, während Webdesigner auf dem Amboß der Informationstechnologie technische Oberflächen für virtuelle Städte schmieden.
 
Der globale Raum konstituiert sich über einen Prozeß, der erfüllt ist vom Nomadentum der unentwegt nach neuen Märkten suchenden Wirtschaft, der sich weltweit anbietenden Arbeit, des Massentourismus, der von Krieg und Hunger getriebenen Flüchtlingsströme und der internationalen Diplomatie. Aber an seinen Umschlagsorten, seien es Flughäfen oder Flüchtlingslager, erkennen wir, daß er ohne organische Gesellschaft und ohne Geschichte ist, weil er allein dem provisorischen Zustand der Durchreise überantwortet ist.
 
Ob künstliche Städte ohne Einwohner oder technische Plattformen für virtuelle Gemeinschaften: die Wahrnehmung dieser, die Begrifflichkeit von Ort und Stadt grundlegend ändernden Gesamtkunstwerke erinnern an Walter Benjamins Reflexionen über die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken und an seine Festellung, "daß die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, auf dem Wege der bloßen Optik nicht zu lösen sind, sondern nur durch Gewöhnung bewältigt werden können".
 

Das Globale wirbelt ethnische Gruppen und Sprachen wahllos durcheinander. Es entsteht eine universelle Sprache, deren Ziel es ist, kulturelle Barrieren und nationale Stereotypen überwinden zu können. Die Sprache der Welt ist eine Mixtur aus Zeichen und Gesten, aus Basic English und dem kleinen Latinum universeller Bilderwelten und Markenartikel. Von den zur Zeit noch 6.000 gesprochenen Sprachen werden in 100 Jahren 90 Prozent nicht mehr existieren. Mit jeder ausgestorbenen Sprache verschwinden Wissen und Kultur.
 
Auf der Suche nach Identität begegnen wir einem Verständnis von Heimat, das über das nationalmythische hinausgeht und sich über die Vertrautheit mit der Sprache und den Gesten dieses Raumes definiert. Weil wir beginnen, in einer Weltgesellschaft zu leben, die überall ist und in der keiner von uns mehr seinen Ort hat, wird ein jeder den Begriff von Heimat für sich persönlich neu definieren müssen und so vor die Aufgabe gestellt, die Verbundenheit mit der rhetorischen Heimat einerseits und der mythischen andererseits in Einklang zu bringen.

  
So wie der echte Mythos der Nation die unüberwindbar scheinende Trennung von Materiellem und Ideellem am Heimatort zur Auflösung bringt und sich über Kultstätten wie Denkmäler u.a.m. artikuliert, schaffen wir uns schon heute Orte, wo auch das Globale seine Heimat findet. Sei es, ob wir irgendwo im Nirgendwo des Internet eine "Homepage" errichten oder das in einer staatsneutralen Zone liegende Hauptquartier der Vereinten Nationen besuchen.


Es mag eine Ironie des Schicksals sein, daß eines der größten Prestigeobjekte des faschistischen Deutschlands zu einem markanten Freiheitssymbol geriet und daß dieses Symbol ausgerechnet ein Flughafen ist. Nehmen wir Berlin-Tempelhof während der Zeit der Luftbrücke als Indiz dafür, daß den Kultstätten des Nomadentums die Kraft innewohnt, durch den Glauben an Frieden und Freiheit zu Symbolen und Kulturräumen einer Weltgesellschaft zu werden.

  
Der Pionier der Luftfahrt, Otto Lilienthal, glaubte fest daran, daß wenn erst einmal die Luft für den Menschen erschlossen sei, die Menschheit auch Kriege überwinden könne. Womit, wenn nicht mit dem Mythos der Weltbruderschaft, können wir erklären, daß trotz aller Glaubenskriege ausgerechnet im Transitbereich eines Flughafens die größten Weltkirchen friedvoll nebeneinander existieren können.
 
Wenn wir das Wort "Hafen" dem Ursprung nach verstehen als einen "Ort, wo man etwas bewahrt" und globalen Raum als einen Ort internationaler Nachbarschaft, so birgt die Vorstellung von diesem Raum und das Betreten seiner Kultstätten ein Gefühl, das Marc Augé wie folgt versucht in Worte zu fassen: "In der Anonymität des Nicht-Ortes spüren wir, ein jeder für sich allein, das gemeinschaftliche Schicksal der Gattung."
 
 
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